Untere Hauptstr. 1
Untersuchungen zum Anwesen Untere Hauptstr. 1
Das Gesamtanwesen besteht aus drei Flurstücken und liegt an der zentralen Straßenkreuzung („Fortuna-Kreuzung“), welche in früheren Zeiten die überregional bedeutende Verkehrslage von Hockenheim ausmachte und damit im Zentrum unserer Stadt. Hier kreuzten sich über Jahrtausende zwei der bedeutendsten Völker-, Handels- und damit leider auch Heerstraßen Süddeutschlands. In Nord-Süd-Richtung war das die Straße von Rom-Mailand-Augsburg-Bruchsal-Burg Wersau (Reilingen) -Ladenburg-Frankfurt und in West-Ost- Richtung die Achse Paris-Metz-Speyer-Nürnberg-Prag , ab Speyer vereint mit der Verbindung aus Straßburg-Mittelmeer.
Sowohl die natürliche Furt durch den Kraichbach, dessen Überquerung später Brücken erleichterten, als auch der historische Siedlungskern, also der Untere Freihof (heute Zehntscheune-Bereich), sind nur einen Steinwurf weit entfernt. Da der Überschwemmungsbereich des Baches seinerzeit bis zum beschriebenen Anwesen reichte, diente es einige Jahrhunderte lang wohl als Viehweide. Gesichert ist die Nutzung ab 1462, als Hockenheim kurpfälzisch wurde und nahebei am Speyerer Weg (Karlsruher Str.), eine Zollstation eingerichtet wurde. Deren Tätigkeit zwang alle Durchreisenden zu Zwischenaufenthalten und nahe gelegene Stellflächen für Zugwagen und Vieh waren gefragt. Wohnhäuser sind auf dem Grundstück deshalb sehr wahrscheinlich erst im 17. Jahrhundert entstanden und dies auch nur am nördlichen Rand (später Hofgelände der Familie Lußheimer), denn noch beim Erwerb durch Martin Gärtner anno 1906 wurde das eigentliche Eckgrundstück als „Biergarten“ genutzt, obwohl die Überschwemmungsgefahr im Zuge des Baus der ersten Steinbrücke (1610) durch Tieferlegung des Bachbettes und Aufschüttung des Speyerer Weges schon längst gebannt war.
Das erste von uns ausgewertete Dokument, welches einen Teil des späteren Gesamtareals der Familie Gärtner betrifft, stammt vom 26.03.1895. An diesem Tag schenkten der Kaufmann Samuel Hirsch Lußheimer und seine Ehefrau Karolina die Lagebuch-Nr. 226/3 (Hofreite 594 qm und Hausgarten 1450 qm) ihren drei Söhnen Louis, Joseph und Maier Lußheimer und behielten sich im Gegenzug die lebenslängliche Nutznießung vor. Bereits 9 Jahre später war der Letztgenannte Alleineigentümer und seine Eltern offenbar verstorben, denn er bot das Anwesen dem Kaufmann Martin Gärtner an, der auf der Suche war nach einem zentral gelegenen Grundstück für den Neubau eines Kaufhauses.
Gärtner griff zu und legte damit den Grundstein für die angemessene Nutzung dieser zentralsten Lage von Hockenheim. Er war im Jahr 1864 in Leimen geboren, hatte eine starke unternehmerische Begabung in die Wiege gelegt bekommen und wollte unbedingt selbständig werden. Dieser Schritt gelang ihm im Jahr 1891 in Hamm/Westfalen, nahe Rheine, der Geburtsstadt seiner Ehefrau, mit der zusammen er ein Kaufhaus eröffnete. Sein Vater war von diesem weit entfernten Standort nicht begeistert und drängte den Sohn immer wieder, doch seine Chance näher der Heimat zu suchen, zumal in dieser Region ein starkes wirtschaftliches Wachstum zu beobachten war. Martin Gärtner ließ sich letztlich überzeugen, begann systematisch nach einer guten Verkaufslage zu suchen und wurde mit Hilfe eines Architekten namens Fackel aus Schwetzingen auf das rasch wachsende Hockenheim aufmerksam, dessen Bürger viele Dinge des täglichen Bedarfs, speziell Kleidung, meist in Speyer und Mannheim kauften. Als ihm das Anwesen Lußheimer an der Unteren Hauptstraße, bebaut mit einem kleinen Wohnhaus sowie einer Scheune angeboten wurde, griff er im Jahr 1904 zu und ließ diese Gebäude sofort abreißen, wobei der im Keller vorhandene Brunnen sorgfältig abgedeckt wurde und unter dem im Jahr 1969 darüber entstandenen Neubau noch immer erhalten ist.
Von Anfang an verband Martin Gärtner und sein Architekt die Absicht, auf diese Weise rascher an das angrenzende Eckgrundstück (Lgb.Nr. 226) heranzukommen, also den Biergarten des gegenüber liegenden Hotels „Zur Kanne“. Gärtner konnte die Eigentümerin, Lina Susanne Lisette Seitz geb. Schwab (Enkelin des verdienstvollen Philipp David Schwab), letztlich überzeugen und erwarb das lediglich mit einer Scheune bebaute Anwesen am 01.02.1906 zum seinerzeit recht stolzen Preis von 8.000 Mark. Da er die Geschäftsräume in Hamm frühzeitig gekündigt hatte, stand Martin Gärtner unter erheblichem Zeitdruck. Bald zeigte sich, dass es unmöglich war, das Bauvorhaben fristgerecht fertig zu stellen und so standen die Eheleute Gärtner im Frühjahr 1906 mit fünf Kindern, einem Güterwaggon voller Mobiliar und Ware auf dem hiesigen Bahnhof und konnte nicht ausladen bzw. einziehen. Der tatkräftige Mann zog mit seiner Familie in der „Kanne“, stellte die Möbel irgendwo unter, verfrachtete die Ware in die alte Scheune/Remise auf dem Baugrundstück und sorgte fortan dafür, dass auf dem Bau der notwendige Druck herrschte. Das zeigte Erfolg, denn im 01. Oktober 1906 konnten die Verkaufsräume des neuen Hauses eröffnet werden, während die Wohnräume im 1. Obergeschoß erst gut einen Monat später bezugsfertig waren. Das Gebäude war für Hockenheim und Umgebung eine Sensation, denn es stand in bester Lage der jungen Stadt, war eines der repräsentativsten Häuser am Ort und konnte auch hinsichtlich des Warenangebots durchaus mit den Konkurrenten in Speyer und Mannheim mithalten. Voll Stolz nannten es die Hockenheimer „unser Glaspalast“, denn die Schaufensterscheiben waren ursprünglich wesentlich höher als heute.
Dass daraus auch ein geschäftlicher Erfolg wurde, war angesichts der Tüchtigkeit von Martin Gärtner fast zwangsläufig. Auch durch die ersten Jahre des 1. Weltkrieges kam das zum Geschäftszentrum gewordene Haus recht gut, doch dann starb 1917 der Gründer und Träger des Unternehmens. Dass seine Ehefrau Wilhelmine ihrem Mann an Tüchtigkeit nicht nachstand wurde so richtig deutlich, als sie es schaffte, mit ihren fünf Kindern (Antonie geb.1892, Karl 1894, Wilhelm 1899, Margarete 1903, Josef 1906) von denen die drei ältesten glücklicherweise schon teilweise selbständig waren und nur unterstützt von einigen Angestellten selbst die extrem schweren Zeiten nach Kriegsende und der bald danach folgenden Jahren der Inflation durchzustehen und das Kaufhaus in die danach wirtschaftlich besseren Jahre zu führen.
Wilhelmine Gärtner starb im Jahre 1924 im Alter von 61 Jahren. Die folgende Analyse der familiären und wirtschaftlichen Situation zeigte den Hinterbliebenen, dass das Kaufhaus nur dann im Familienbesitz bleiben konnte, wenn der jüngste Sohn, Josef, die Führung des Unternehmens übernahm, denn die anderen Geschwister waren entweder anderweitig beruflich gebunden oder wohnten auswärts. Das größte Problem dabei war, dass Josef erst 18 Jahre alt war und nur über die Fachkenntnisse verfügte, welche ihm die Mithilfe im elterlichen Geschäft verschafft hatte. Doch die Familie hielt zusammen, zumal sich bereits gezeigt hatte, dass der junge Mann die kaufmännische Ader seiner Eltern geerbt hatte. Im Jahr 1932 hatte Josef Gärtner alle erforderlichen Prüfungen bestanden und übernahm offiziell die Leitung des Kaufhauses. Drei Jahre später heiratete er die 1907 geborene Frieda geb. Rombach aus Kirchzarten bei Freiburg; dem glücklichen Ehepaar wurden zwei Kinder geschenkt (Hildegard 1936 und Eberhard 1943). Zum 30. Jubiläum des Unternehmens Im Jahr 1936 zahlte Josef seine Geschwister aus. Wie es von Anfang an zwischen ihnen verabredet gewesen war, geschah dies erst, als seine finanzielle Basis es problemlos möglich machte. Er war nun in ähnlicher Lage wie seine Vater im Jahr 1906, denn das Kaufhaus nahm einen bemerkenswerten Aufschwung. Schon im Jahr 1935 konnte man es sich leisten, die Wohnung durch den Einbau eines Bades zu modernisieren. Diese Entwicklung wurde allerdings nach drei Jahren jäh unterbrochen, denn schon im Herbst 1939, wenige Wochen nach Ausbruch des 2. Weltkriegs, wurde Josef Gärtner zur Wehrmacht eingezogen. Bald traten Probleme mit der Warenbeschaffung auf, die Umsätze gingen zurück und gegen Kriegsende wurde das Haus mehrfach von Granaten getroffen, denen auch die markanten Schaufensterscheiben zum Opfer fielen. Die zeitweise Schließung der Verkaufsräume war unvermeidbar.
Josef Gärtner hatte im Krieg Glück im Unglück gehabt. Durch den Zufall, dass er eine Brille trug, wurde er beim ersten Appell als „des Schreibens mächtig“ klassifiziert und einem Major als Schreiber zugeordnet. Die beiden kamen gut miteinander aus und Josef Gärtner konnte, regelmäßig auch als Fernkurier eingesetzt, bis zum Kriegsende bei dem Offizier bleiben. Es war ihm sogar möglich, in München der Gefangennahme zu entgehen und sich mit ein paar Kameraden in 8 Wochen und zu Fuß in die Heimat durchzuschlagen, wo er zwar völlig abgemagert, aber ansonsten unversehrt bei seiner freudig überraschten Familie ankam.
Mit bewährter Tatkraft organisierte er die behelfsmäßige Reparatur des Gebäudes, beschaffte erste Ware und sorgte so dafür, dass das Kaufhaus noch im Jahr 1945 wieder öffnen konnte. Es folgten Jahre des Wiederaufbaus sowohl in baulicher wie auch unternehmerischer Sicht.
Wegen der seinerzeit vorhandenen großen Nachfrage nach Ladenflächen in zentraler Lage, ließen die Eheleute Gärtner 1953 ein Teilstück von 217 qm vom Gesamtanwesen wegmessen. Das Grundstück erhielt die Bezeichnung Karlsruher Straße 2 und wurde nach Plänen des Architekten Siebert mit einem einstöckigen Ladenlokal mit Flachdach bebaut. Erster Mieter war Uhrmachermeister Kehrer, 1956 kam der Lebensmittelfilialist Goedecke hinzu. Als dieses Unternehmen größere Verkaufsflächen benötigte und 1961 das durch Anbau erweiterte Ladenlokal der Gärtners in der Unteren Hauptstraße 1 umzog, folgten in der Karlsruher Straße 2 hintereinander vier Eisdielen, wovon die letzte im Jahr 1983 ihre Pforten schloss. Mietnachfolger des Uhrengeschäfts Kehrer nebenan wurde zunächst die Roland-Reinigung (1962 – 1974) und dann das Modegeschäft Bohr, welches im Jahr 1993 den leer stehenden Nachbarladen mit übernahm und seither unverändert eine wichtige Anlaufpunkt insbesondere für die Damenwelt der Region darstellt. Seit fast 60 Jahren zeugt das Gebäude von einer gelungenen Diversifikation, welche die Weitsicht von Josef Gärtner unter Beweis stellt.
Zum 50-jährigen Jubiläum im Jahr 1956 war das Gebäude war wieder eine Zierde der Stadt und der alte zentrale Anlaufpunkt, insbesondere wenn es um Bekleidung ging. Doch die Eheleute Gärtner waren Realisten und erkannten früh, dass die rasch wachsende Mobilität der Bevölkerung erhebliche Auswirkungen auf den hiesigen Einzelhandel haben würde, weil die Kunden das großstädtische Angebot im eigenen Auto schnell erreichen konnten. Hinzu kam die schwere Erkrankung von Frieda Gärtner. Konsequent gingen sie daher im Jahr 1957 auf ein Angebot des Kaufhauses Dannheimer aus Wiesloch ein und verpachteten diesem ihr Geschäft. Auch Personal und Warenlager wurden übernommen. Im Jahr 1961 war auch dort erkannt worden, was Gärtners schon vorher geahnt hatten und so folgte als nächster Pächter der Lebensmittelfilialist Goedecke, der vorher im Zweitgebäude der Familie Gärtner sein Geschäft betrieben hatte und dringend größere Räumlichkeiten benötigte. Die vorhandenen Ladenräume wurden erweitert, indem das seit 1904 nicht mehr bebaute angrenzende Anwesen, welches seinerzeit von Maier Lußheimer erworben worden war, mit einem einstöckigen Flachdach-Bau versehen wurde. Nächster Mieter war von 1981 bis 2007 ein dm-Markt, gefolgt von dem seither erfolgreich aktiven Modegeschäft Esprit.
Eine weitere Baumaßnahme wurde 1973 durch ein Großfeuer ausgelöst, dem die alte Scheune/Remise zum Opfer fiel, welche schon beim Grundstückserwerb im Jahre 1906 auf dem Anwesen stand und seither als Lager diente. Der frei gewordene Platz wurde mit Garagen bebaut.
Wie schon sein Vater war auch Josef Gärtner ein sehr angesehener Bürger der Stadt geworden, dessen Sachverstand im Gemeinderat, dem Aufsichtsrat der Volksbank, dem katholischen Kirchengemeinderat und diversen Vereinen gefragt war. Um die Zukunftsfähigkeit seines Grundbesitzes zu sichern, ließ er im Jahr 1967 nach Plänen von Architekt Oskar Eichhorn das Dachgeschoß zu einer Wohnung umbauen, welche seither durch die Familie seiner Tochter Hildegard und deren Ehemann Peter bewohnt wird. Diese übernahmen das Gesamtobjekt nach den Tod von Josef Gärtner im Jahr 1982 und bauten es 1998 gemäß einer Konzeption des Architekten Volker Grein zu einem modernen Domizil um, welche insbesondere die Aufstockung des vorher einstöckigen Anbaus vorsah. Zwar waren schwierige bauliche Probleme zu lösen, doch das Ergebnis hat die Mühen und Kosten gelohnt.
Inzwischen wohnt auch ein Mitglied der 4. hiesigen Generation der Gärtner/Linke-Familie im Haus. Um Platz für deren Kinder zu schaffen, wurden im Jahr 2011 im Dachgeschoß zwei Kinderzimmer eingebaut und damit gleichzeitig die jetzt 112-jährige bauliche Tradition des Objektes fortgesetzt. Trotz aller Umbauten hat sich gezeigt, dass die ursprüngliche Nutzungskonzeption bemerkenswert weitsichtig war.
Verfasser Horst Eichhorn, unterstützt durch die Hildegard Linke geb. Gärtner und ihren Ehemann Peter Linke
Stand Juli 2012