Kirchenstr. 2
Untersuchungen zum Anwesen Kirchenstr. 2
Angesichts einer rasch wachsenden Bevölkerung und starkem Wirtschaftswachstum wurde eine wesentliche Ausweitung des Angebots an Baugrundstücken, insbesondere für Wohnzwecke, ab etwa 1885 auch in unserer Stadt immer vordringlicher. Die Gemeindeverwaltung ging das Problem systematisch an, indem zentrumsnahe Teile der Feldflur, speziell entlang der Heidelberger Straße überplant wurden. Während vor 1900 der nordöstliche Bereich (Hirsch-, Schul- Ziegel-, Schützenstraße) erschlossen und bebaut wurde, war dies in südöstlicher Richtung (Otto-, Rathaus-, Luisen- und Jahnstraße), nicht so einfach. Dort bildete nämlich der alte Friedhof , welcher seit dem Jahr 1881 nicht mehr neu belegt und im Eigentum der Stadt war, eine Art Barriere.
Um dennoch genügend Platz für eine möglichst umfassende Neugliederung und variable Nutzung zu haben, entschloss sich die Stadtverwaltung schon in den Jahren 1897 und 1898, in südlicher Richtung mehrere Grundstücke der Gewanne „auf den Dorfgraben“ sowie „neben dem alten Friedhof“ mit insgesamt rund 116 ar zu erwerben und hieraus das Flurstück Nr. 3261 zu bilden. Man war nunmehr in der Lage, den beiden großen christlichen Gemeinden, die auf der Suche nach passenden Standorten für neue Kirchenbauten waren, passende Grundstücke kostenlos anzubieten. Während die Evangelischen sofort zugriffen und schon 1907 mit dem Neubau begannen, entschieden sich die Katholiken für den Bauplatz, der im Jahre 1900 durch den Brand des der alten Kirche (heute Sankt Christophorus) gegenüberliegenden Gasthauses „Zum Schwarzen Lamm“ frei geworden war und errichteten darauf eine neue Kirche im Jugendstil. Damit war Gelände frei für einen ebenfalls dringend benötigten Schulbau und so konnte nach dem schon 1890 errichteten Backsteinschulhaus (heute Sitz der VHS) ein neues Schulgebäude (seit 1945 „Pestalozzischule“ genannt) ihrer Bestimmung übergeben werden.
Das restliche Gelände entlang der Luisen- und Kirchenstraße wurde in acht Bauplätze für Wohngebäude aufgeteilt und zwecks rascher Bebauung in einem einzigen notariellen Vertrag vom 27.08.l905 an fünf Erwerber verkauft. Das hier zu beschreibende Anwesen von seinerzeit 470 qm ging dabei zum Preis von 1000 Mark an den Bauunternehmer Theodor Krämer und seine Ehefrau Katharina geb. Keller. Ganz im Sinne der Stadtverwaltung, welche an einer raschen Bebauung interessiert war, traten die Käufer als Bauträger auf und verkauften das Anwesen samt bereits erstellten Bauten (Wohnhaus, Remise, Schweinestall und Plumpsklo) am 11.04.1906 an Wilhelm Rieder, Schreinermeister aus Hockenheim. Wie seinerzeit Standard, wurden die Zimmer im Wohnhaus mit Holz- und Kohleöfen beheizt.
Um bald sein Geschäft als Bau-, Möbel- und Kunstschreiner eröffnen zu können, begann der junge Handwerksmeister am hinteren Grundstücksende umgehend mit dem Bau einer Werkstatt samt Holzlager; eine alte Scheune, welche zur Hälfte der Nachbarin Susanne Haffner gehörte, konnte mit einbezogen werden. Der Schweinestall wurde zur Waschküche umgebaut.. Wegen der beengten Situation blieb nichts Anderes übrig, als den seinerzeit unverzichtbaren Hühnerstall als Obergeschoss auf Remise und Waschküche zu errichten. Ein alter Grenzstein kündet noch heute von den früheren Gegebenheiten. Auch ein Brunnen war vorhanden, der jedoch nach Einführung der zentralen Frischwasserversorgung (ab 1911) zugeschüttet wurde. Dasselbe geschah mit der Pfuhlgrube, als ab den zwanziger Jahren Abwasserleitungen im Ort verlegt wurden.
Bei dieser Sachlage war es nur zu verständlich, dass Wilhelm Rieder immer wieder versuchte, einen Teil des Grundstücks der Nachbarin Haffner zu erwerben, die ihm ein Wegerecht bis zur Ottostraße eingeräumt hatte. Erst im Jahr 1921 wurde man sich handelseinig, und Rieder konnte mit Vertrag vom 09. März 420 qm Gartengelände zum Preis von 22.000 Mark erwerben. Bereits 14 Tage später gab Rieder für 10.000 Mark einen Teil von 145 qm weiter an die Nachbarin Magdalena Schrank geb. Goth. Die Höhe der Beträge macht deutlich, dass die bevorstehende Super-Inflation bereits ihre Schatten voraus warf.
Mit dem Tod von Wilhelm Rieder endete die Nutzung des Anwesens als Schreinerei. Doch seine Witwe Gertrud geb. Becker, welche am 28.04.1942 das Anwesen per Erbfolge übernommen hatte, führte die teilweise gewerbliche Nutzung weiter, indem sie im Erdgeschoss eine Damenschneiderei einrichtete. Als für deren Produkte nach Ende des 2. Weltkriegs kein ausreichender Bedarf mehr bestand, vermietete Frau Rieder die früher als Schreinerei genutzten Räume an die Firma Anstetter, die aus Lederresten Taschen mit vielen Luftlöchern fertigte. Diese wurden zu einem „Renner“, der insbesondere von gewerblichen Abnehmern in der „Lederstadt“ Offenbach geschätzt wurde. Altersbedingt musste Frau Rieder im Jahr 1948 die Eigenständigkeit aufgeben. Im gleichen Jahr konnten die letzten der seit 1946 einquartierten Flüchtlinge ausziehen. Sie vermietete die Werkstätte an die Firma Möbel-Schwab, welche dort bis Anfang der fünfziger Jahre aktiv war. Auch die Einfahrt diente als Ausstellungsraum. Dazu wurden die Jugendstil-Einlegeteile des Holztores gegen Glas ausgetauscht. In dem im Jahr 1983 installierten neuen Eingangstor wurden die mit Trauben und geometrischen Mustern verzierten alten Füllungen wieder eingefügt. Ein Werkstatt-Brand, der glücklicherweise rasch gelöscht werden konnte, brachte dann das Ende der gewerblichen Nutzung auf dem Anwesen.
Ab dem Jahr 1953 war nächster Eigentümer der Stiefsohn von Gertrud Rieder namens Josef Rieder, welcher beruflich in die Fußstapfen seines Vaters getreten und Schreinermeister geworden war. In jener Zeit wurde im Haus ein Bad mit WC eingebaut. Nicht lange danach wurde die Beheizung in den Wohnräumen auf Ölöfen umgestellt, für deren einfachere Beschickung später ein zentraler Öltank sorgte. Dem Josef Rieder folgte im Jahr 1979 seine Witwe Anna Rieder geb. Haas. Sie wiederum übergab im Dezember 1981 das Gesamtobjekt zu je ½ an ihren Sohn Hans Rieder und dessen Ehefrau Sieglinde geb. Klee. Nach Plänen des Architekten Volker Grein wurde bereits im Folgejahr mit der grundlegenden Umgestaltung und Modernisierung begonnen. Von dem alten Haus blieben nur der aus Backsteinen gemauerte Gewölbekeller und die Fassade zur Straße hin stehen, dahinter entstand ein gut durchdachtes und schönes Wohnhaus. Eine wesentliche Vergrößerung der Wohnfläche wurde erreicht durch einen Anbau in Richtung Garten sowie ein Flachdach ab Firsthöhe, wodurch in Richtung Garten ein zusätzliches Stockwerk geschaffen werden konnte. Die Mauern des Anbaus zu den Nachbarhäusern wurden aus Beton gefertigt, wovor Hohlblocksteine gesetzt wurden. Da in dem Reihenhaus naturgemäß nur von zwei Seiten Licht eindringen kann, wurde das geräumige Treppenhaus durch eine Lichtkuppel im Flachdach heller gestaltet.
Nach dem Abriss der alten Werkstatt, die als Querriegel den Blick vom Wohnhaus zum Garten versperrte, wurde bei dem Neu-Umbau 1982/83 die ganze Wohnzimmerfassade zum Garten verglast, so dass hier ein verandaartiger Eindruck entstand. Die Außenfassade ist noch ursprünglich erhalten, nur der rotgelbe Sandsteinsockel wurde nach mehr als einhundert Jahren durch einen gelblichen, gebrochenen Naturstein ersetzt. Zusammen mit dem imposanten Pfarrhaus der evangelischen Kirchengemeinde und den anderen Nachbarhäusern bildet der Straßenzug „Kirchenstraße“ ein unverwechselbares Gebäudeensemble.
Verfasser Horst Eichhorn in enger Zusammenarbeit mit dem Eigentümer, Herrn Hans Rieder.
Stand Februar 2013